Abbildungen als Träger der Narration und Wissensvermittler?

Analysegegenstand

Das Schulbuch Histoire/Geschichte. Europa und die Welt von der Antike bis 1815 fällt durch eine neue Art der Visualisierung mit vielen Abbildungen und Materialien auf. Der reine Informationstext ist dabei vergleichsweise kurz gefasst. Besonders in den Dossier-Seiten, die den in die Thematik einführenden Doppelseite nachstehen, wird dieser multimodale Charakter deutlich. Die Abbildungen, die große Textteile ersetzen, müssen den Schüler*innen jedoch auch die verschiedenen Thematiken vermitteln. Es stellt sich somit die Frage, ob dies auch geleistet werden kann.

Exemplarisch wird die Dossier-Seite „Die Perspektive: ein neues Maß für die Malerei“ untersucht. Sie setzt sich mit der Kunst der Renaissance auseinander. Im Fokus stehen nicht nur die Abbildungen selbst, sondern auch ihre Einbindung in die Doppelseite und ihre spezifische Thematik. Die folgende Bestandsaufnahme soll helfen, einen ersten Überblick zu bekommen.

Bestandsaufnahme

Der Einführungstext

Die Doppelseite bietet lediglich einen kurzen einführenden Text auf der linken Seite. Folgende Informationen sind dabei aus dem Text zu gewinnen:

  • Perspektive ist für die Renaissancemalerei ein wichtiges Merkmal.
  • Es wird versucht, die Wirklichkeit naturgetreu wiederzugeben.
  • Mathematik beeinflusste die Künstler im 15. Jh, welche die Regeln für Perspektive aufstellten.
  • Wichtig ist die Zentralperspektive; hierbei zu beachten sind Betrachterstandpunkt und Fluchtpunkt (vgl. Strukturlinien des Gemäldes).
  • Weitere Perspektiven: Farb- und Luftperspektive: Eindruck von Tiefe durch Abnahme der Farbintensität

Die Aufgabenstellungen

Frage 1: „Welche anderen beiden Künste stehen im Zusammenhang mit den Forschungen der Maler über die Perspektive?“
Verwendet werden dafür M1, M3, M6.

Frage 2: „Zeigen sie, dass die Entdeckungen der Perspektive mit den Fortschritten in der Wissenschaft in Beziehung steht.“
Verwendet werden dafür M2, M3, M6.

Frage 3: „Beschreiben Sie den Eindruck, den Masaccio mit diesem Fresko erweckt.“
Verwendet wird dafür M1.

Frage 4: „Vergleichen Sie dieses Gemälde mit anderen Darstellungen der gleichen Szene und erklären Sie, wie es Mantegna möglich war, mithilfe der Perspektive diese Thema neu darzustellen.“
Verwendet wird dafür M4.

Frage 5: „Suchen Sie ein Gemälde von Leonardo da Vinci, das die Umsetzung seiner Theorie der Luftperspektive erkennen lässt.“
Verwendet wird dafür M3.

Die Materialien

Auf der Doppelseite sind 5 Abbildungen und eine Quelle als Materialien gegeben:

M1) Masaccio: Die Trinität, 1427, Fresko, 667 x 317 cm, Santa Maria Novella (Florenz)
Weitere Informationen zu der Abbildung aus der Bildunterschrift: erstes Werk, das Perspektive anwendet, Masaccio Zusammenarbeit mit Brunelleschi und Alberti (jeweils Abhandlungen über Malerei, Bildhauerei und Architektur)

M2) Leon Battista Alberti: Zeichnung Konstruktion der Perspektive bei einem Fußboden, 1518, De pictura-Manuskript, Biblioteca Statale (Lucca)
Weitere Informationen zu der Abbildung aus der Bildunterschrift: Alberti verfasst um 135 Traktat „Über die Malerei“, darin entwickelt er Perspektive, Rückgriff auf mathematische Kenntnisse, prägt Begriffe wie „visuelle Pyramide“ und „Fluchtpunkt“.

M3) Quelle über die Luftperspektive: Übers. nach Leonardo da Vinci, Carnets, undatiert (Handschrift 2038, folio 18r, Bibliothèque nationale de France). In: Pascal Brioist, L’Europe de la Renaissance, la documentation francaise (documentation photographique, Dossier Nr.8049), 2006, S. 46.

M4) Andrea Mantegna: Lamento sul Christo morto (Beweinung Christi), um 1480, Tempera su tela, 81 cm x 68 cm, Pinacoteca di Brera (Mailand)

M5) Albrecht Dürer,  Stich auf Holz, mit einer Illustrierung aus dem Buch “Underweysung der messung mit dem zirckel und richtscheyt in Linien ebnnen unnd gantzen corporen”, 1525.
Weitere Informationen zu der Abbildung aus der Bildunterschrift: deutscher Maler, Inspiration durch Alberti und Brunelleschi, hat Apparatur für Perspektive entwickelt, die die Arbeit des Malers erleichtert – Perspektograf/Dürerscheibe,  Funktion: gerasterte  Glasscheibe, Visierwinkel, gerastertes Papier.

M6) Piero della Francesca: La Flagellazione (Die Geißelung), um 1455, Öl auf Holz, 59 x 81 cm, Galleria Nazionale delle Marche (Urbino).
Weitere Informationen zu der Abbildung aus der Bildunterschrift: Piero war berühmter Mathematiker, hat das Traktat „De Prospectiva Pingendi“ verfasst.

Abbildungen

M1) Masaccio: Die Trinität, 1427, Fresko, 667 x 317 cm, Santa Maria Novella (Florenz).

M2) Leon Battista Alberti: Zeichnung Konstruktion der Perspektive bei einem Fußboden, 1518, De pictura-Manuskript, Biblioteca Statale (Lucca).

M4) Andrea Mantegna: Lamento sul Christo morto (Beweinung Christi), um 1480, Tempera su tela, 81 cm x 68 cm, Pinacoteca di Brera (Mailand).

M5) Albrecht Dürer: Der Zeichner des liegenden Weibes, Stich auf Holz (hier Illustration).

M6) Piero della Francesca: La Flagellazione (Die Geißelung), um 1455, Öl auf Holz, 59 x 81 cm, Galleria Nazionale delle Marche (Urbino).

Vorgehensweise

Um die Einbindung der Abbildungen in die Doppelseite und ihre Thematik klären zu können, wurden Layout-Analysen unter verschiedenen Gesichtspunkten erstellt:

  • Der allgemeine Aufbau der Doppelseite sowie der Text-Bild-Anteil
  • Das Narrativ der Perspektive in den Abbildungen selbst (Bild und Bildunterschrift wurden hierbei als Einheit betrachtet). Zum Narrativ der Perspektive zählen:
    1. Die explizite Nennung der „Perspektive“
    2. Die für die Perspektive wesentlichen Elemente, wie die Begriffe „Mathematik“ und „Zentralperspektive“
    3. Die Nennung wichtiger Theoretiker der Perspektive in der Renaissance wie „Leon Battista Alberti“ oder „Brunelleschi“
  • Die letzte Analyse fokussiert den Bezug zwischen den Aufgaben und den Materialien der Seite. Sie umfassen in diesem Fall nicht nur die Abbildungen, sondern auch die einzige Quelle der Doppelseite. Abbildung und Bildunterschrift wurden bei der Ergebnissicherung voneinander getrennt betrachtet.

Weitere Analysen auf der Belegseite

Analyse

Erkenntnisse

Erkenntnisse aus der Betrachtung der Begriffe, die für das Narrativ eine wesentliche Bedeutung haben:

  • Die Abbildungen und ihre Unterschriften machen etwa ¾ der gesamten Doppelseite aus. Rein prozentual stehen sie im Vordergrund.
  • Das Narrativ „Perspektive“ findet sich explizit auf der gesamten Doppelseite. Die Abbildungstexte verbinden die Abbildungen untereinander und mit der Thematik der Seite.
  • Explizit kann außer Mantegna jede Abbildung mit dem Narrativ der „Perspektive“ in Verbindung gebracht werden.
  • Della Francesca, Alberti und Masaccio scheinen wesentlich für die Betrachtung zu sein, da sie alle die für das Narrativ wichtigen Elemente benennen: Perspektive, Mathematik und Zentralperspektive.
  • Die Nennung von Alberti und Brunelleschi verbindet drei weitere Abbildungen inhaltlich: Dürer erhält Inspirationen von Alberti und Brunelleschi, Masaccio fertigt sein Werk gemeinsam mit ihnen und unten links im Bild und in der Bildunterschrift wird Albertis Theorie selbst zum Thema.

Erkenntnisse aus der Betrachtung des Bezugs von Aufgabenstellung und Materialien:

  • Die zwei ersten Fragen arbeiten ausschließlich mit den Abbildungstexten und dem Quellentext. Nur die Aufgaben 3 und 4 bearbeiten explizit einzelne Abbildungen: Masaccio und Mantegna. Es ist das einzige Mal, dass Mantegna mit auf der Seite eingebunden ist. Aufgabe 5 ist allein der Quelle gewidmet.
  • Die Abbildung Masaccios wird hervorgehoben, da eine eigene Aufgabe zu seiner Darstellung gestellt wird, bei der intensiv mit der Perspektive im Bild gearbeitet werden soll. Bei Mantegna müssen nur andere, von dieser Darstellung abweichende, Szenen anderer Künstler recherchiert werden.
  • Dürers Stich kann nur durch seine Bildunterschrift mit den anderen Abbildungen in Beziehung gesetzt werden. Er ist in keiner Aufgabenstellung erwähnt.

Konklusion und weiterführende Fragen

Die Abbildungen sind besonders durch die Abbildungstexte mit dem Narrativ der „Perspektive“ sowie der Thematik der Seite verknüpft.

Die Aufgabenstellungen der Seite arbeiten überwiegend mit den Abbildungstexten und weniger mit den Abbildungen selbst. Nur einmal soll eine Abbildung ganz explizit auf die darin vorherrschende Perspektive untersucht werden. Die Texte (in den Quellen und Bildunterschriften) werden in den Aufgabenstellungen weiterhin bevorzugt.

So arbeitet die Doppelseite insgesamt mehr mit dem Text als mit dem Bild, obwohl die Abbildungen zahlreich vertreten sind. Die Abbildungen können auf diese Weise lediglich als informationserweiternd betrachtet werden. Die in ihnen enthaltene Information muss erst über einen Text aufgeschlüsselt werden. Ist das Bild also insgesamt als Informationsträger ungeeignet? Gibt es zu wenige Informationen Preis, um allein als Wissensvermittler zu fungieren?

Diese Fragen, die vorerst offen bleiben müssen, können nicht nur als Konklusion dieser Analyse festgehalten werden, sondern dienen auch als Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen.

von Clara Nicolay