Bild und Kontext von Anton von Werners Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches

Abb. 1: Ausschnitt aus Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, 1885, Öl auf Leinwand, 1,67 × 2,02 m, Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh.

Das Gemälde Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches des Malers Anton von Werner (1843-1915) wird vielen einmal begegnet sein, denn es wurde zum „Kultbild für eine ganze Epoche“[1]. Häufig handelt es sich dabei jedoch nicht um die erste, sondern um die dritte, zuweilen auch die zweite Fassung. Da es sich bei der Proklamierung um einen außergewöhnlichen Fall von Historizität eines Objekts handelt, soll diese im Folgenden näher untersucht werden. Bei der Analyse der Frage nach Bild und Kontext der verschiedenen Fassungen stellt man fest, dass die erste Fassung den Anspruch einer Idealisierung eines gegenwärtigen Geschehens hatte, die zweite und dritte Fassung dagegen die Vergegenwärtigung eines Ideals. Laut Dominik Bartmann wandelte sich die Funktion der Gemälde zudem „von einem Sinnbild der nationalen Verbundenheit [hin] zu einer hegemonialen Selbstdarstellung Preußens“.[2]

Hintergründe

Insgesamt gibt es neben weiteren Skizzen vier Wandgemälde der Proklamierung. Das erste wurde 1877 fertiggestellt, das letzte 1913. Es findet sich also eine lange Zeitperiode von dem Ereignis selbst im Jahr 1871 bis hin zum letzten Gemälde, was die Untersuchung davon so spannend macht. Leider ist nur eine Gemäldefassung erhalten geblieben, die anderen wurden entweder im Krieg zerstört oder gelten als verschollen. Für die Analyse muss sich also auch auf Fotografien und weitere Skizzen gestützt werden. Bei der Untersuchung wird chronologisch vorgegangen, um die historischen Entstehungskontexte besser nachvollziehen zu können. 

Für Werner selbst kam die Aufforderung, die Kaiserproklamation in einem Gemälde festzuhalten, völlig unerwartet. In seinen Memoiren hielt er später fest, dass er damals ein paar Tage zuvor die Nachricht vom kaiserlichen Hof erhielt, dass er in Versailles etwas seines „Pinsels Würdiges erleben würde“[3]. Aufgrund der Kriegswirren erreichte er erst am Tag der Proklamation Versailles, ohne zu wissen, was ihn an diesem Tag genau erwarten würde. In all seinen Gemälden hat Werner nicht die Verlesung der Kaiserproklamation dargestellt, den eigentlichen Gründungsakt, sondern die anschließende Akklamation der Fürsten und Offiziere. Grund dafür war vermutlich, dass er zum einen der Verlesung akustisch nur schwer folgen konnte und zum anderen die Akklamation zum anderen spektakulärer anmutete. 

Erste Fassung / Schlossfassung (1877)

Abb. 2: Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, 1877, Öl auf Leinwand, 4,34 × 7,32 m, Kriegsverlust; nur als Schwarz-Weiß-Fotografie erhalten.

Vor Ort machte Werner Skizzen und Figurenstudien der wichtigsten Personen. Den Auftrag für ein Gemälde erhielt er jedoch erst kurze Zeit später. Denn bei einem Abendessen Ende Januar 1871 hatten der Kronprinz Friedrich Wilhelm und einige Fürsten die Idee dem Kaiser ein Gemälde der Proklamation zu schenken. Friedrich Wilhelm wählte daraufhin gemeinsam mit Werner einen Platz im Berliner Schloss aus, die Komposition des Bildes sollte dabei auf die Umgebung hin ausgerichtet werden. Der letztendliche Auftraggeber des Gemäldes war jedoch der Großherzog von Baden, der schließlich mit eigenen Mitteln für das Projekt eintrat, nachdem sich keiner der Fürsten dafür bereiterklärte. Nach Vollendung sollte das Bild daher in das Eigentum des Großherzogs übergehen und Werner darüber hinaus auf Repliken jeglicher Art verzichten. Dies ist einer der Gründe, weshalb die späteren Fassungen stark von der ersten abweichen. Zum 80. Geburtstag Kaiser Wilhelms I. wurde ihm das Gemälde 1877 schließlich als Überraschungsgeschenk der deutschen Fürsten und freien Städte übergeben.

Abb. 3: Hervorgehoben, von links nach rechts: Kaiser Wilhelm I., Großherzog Friedrich I. von Baden, Reichskanzler Otto von Bismarck, Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke, Selbstportrait Anton von Werners.

Das Geschehen im Bild wird aus seitlicher Perspektive präsentiert, wobei sich die Fürsten im linken Bilddrittel befinden, während die Masse der Offiziere im Kontrast dazu den Großteil des restlichen Gemäldes füllen. Die politische und militärische Führung erscheint durch die Perspektive zwar eher kleiner, wird auf der Estrade allerdings erhöht dargestellt und dadurch extra hervorgehoben. Kaiser Wilhelm I. und der neben ihm mit erhobenem Arm stehende Großherzog von Baden sind zudem die einzigen Figuren, die gar nicht oder kaum überdeckt werden. Zwischen den Fürsten und den Offizieren befindet sich Reichskanzler Otto von Bismarck mit der Proklamierungsurkunde und hinter ihm Helmuth von Moltke, Generalfeldmarschall und Chef des Generalstabs. Am rechten Bildrand findet sich ein Selbstportrait Werners, das die Glaubwürdigkeit der Darstellung belegen soll, und den distanzierten Blick auf die Ereignisse erklärt. Der Betrachter des Bildes erhält jedoch einen angehobenen Standpunkt, wodurch man das Gefühl erhält, Zeuge des Geschehens sowie objektiver Beobachter zu sein. Insgesamt kann man jedoch festhalten, dass das Gemälde eher fotografisch anmutet und einen dokumentarischen Charakter aufweist, insbesondere im Gegensatz zu den späteren Fassungen. Dies wurde auch schon von Zeitgenossen kritisiert, die Werner fehlenden Pathos vorwarfen.[4] Bei seiner Enthüllung erhielt das Bild dennoch großen Beifall.

Zweite Fassung / Zeughausfassung (1882)

Abb. 4: Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, 1882, Wandbild in der Ruhmeshalle des Berliner Zeughauses, Wachsfarben auf Leinwand, 5,0 × 6,0 m, Kriegsverlust, Reproduktion nach einer Fotografie.

Kaiser Wilhelm I. veranlasste Mitte der 1870er Jahre den Umbau des Berliner Zeughauses in eine preußische Ruhmeshalle. Die zuständige Kommission für das ikonographische Programm erteilte Werner im Frühjahr 1880 den Auftrag für ein Wandgemälde der Kaiserproklamation, das er zwei Jahre später fertigstellte. 

Bei der Untersuchung des Bildes fällt direkt auf, dass Werner eine andere Blickrichtung wählte, der Staatsakt wird nun frontal dargestellt. Dabei wird das Bild durch seinen Rahmen wie von Säulen eingerahmt, wodurch ein Fenstereffekt für den Beobachter entsteht. Im Gegensatz zur ersten Fassung ist der Betrachter des Gemäldes nun nicht mehr Teil des Geschehens, sondern stiller Beobachter mit einem besseren Blick auf die tatsächliche Handlung. Der Kaiser und die Fürsten sind wieder erhöht links positioniert, die akklamierenden Offiziere rechter Hand, wobei diesmal beide Gruppen jeweils eine Bildhälfte einnehmen, da die Anzahl der Offiziere aus Platzmangel stark reduziert werden musste.

Abb. 5: Hervorgehoben, von links nach rechts: Kronprinz Friedrich Wilhelm, Kaiser Wilhelm I., Reichskanzler Otto von Bismarck, Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke.

Darüber hinaus stehen durch die neue Perspektive und die Reduzierung der Personen, einige Menschen mehr im Vordergrund als zuvor, insbesondere Kaiser Wilhelm I. und Bismarck. Deren Glorifizierung kam der Ideologie der Reichsidee entgegen. Der anschließende Publikumserfolg, sowohl bei der zweiten als auch der späteren dritten Fassung, lässt vermuten, dass Werner damit die vorherrschenden nationalen Gefühle einer breiten Öffentlichkeit wiedergab. In der ersten Gemäldefassung erschien Kaiser Wilhelm I. zwischen den Fürsten noch als Erster unter Gleichen. In der Zeughausfassung ist er dagegen neben Kronprinz Friedrich Wilhelm und nach Bismarck die dominierende Figur.Letzterer wird in dieser Fassung in einem weißen Koller hervorgehoben, was jedoch nicht der Wirklichkeit entsprach, da er bei der Proklamation einen blauen Waffenrock trug. Werner schildet in seinen Memoiren, dass der Kaiser diese Herausstellung von Bismarck bei einem Besuch der Ruhmeshalle auch direkt kritisierte. Werner hielt dagegen, dass alle anderen Kürassiere den weißen Koller trugen und Bismarck ihn daher auch hätte tragen müssen, worauf der Kaiser ihm zugestimmt haben soll. [5] Aufgrund der Anfertigung für eine preußische Ruhmeshalle wird in der Zeughausfassung der militärische Charakter des Staatsaktes noch stärker betont als in der ersten Fassung. So wird neben Bismarck auch Moltke in den Vordergrund gestellt, wobei laut Bartmann die zur Estrade hin ausgerichtete Schrittstellung eine Metapher für dessen erfolgreiche Kriegsführung sein soll. Interessant ist auch die Blickachse zwischen Wilhelm I. und Bismarck, da der Kaiser über den Reichskanzler hinwegblickt, während dieser den Kaiser etwas provokant anblickt. Nach Werner soll es im Vorfeld der Proklamation zu Unstimmigkeiten zwischen diesen beiden gekommen sein, was durch die Blicke auch im Gemälde dargestellt wurde.

Man kann festhalten, dass die Zeughausfassung durch ihre Perspektive und ihren Ausschnitt sehr viel komponierter wirkt, als die erste Fassung. Dies ergibt jedoch Sinn, wenn man bedenkt, dass Werner die Skizzen für die Schlossfassung während der Proklamation spontan ohne große Planung und ohne Kenntnisse des Geschehens schuf. Darüber hinaus durfte er, wie erwähnt, laut Vertrag keine Kopie der früheren Fassung machen, weshalb sich die späteren Werke sehr unterscheiden mussten.

Dritte Fassung / Friedrichsruher Fassung (1885)

Abb. 6: Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, 1885, Öl auf Leinwand, 1,67 × 2,02 m, Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh.

Nur wenige Jahre nach der Zeughausfassung erhielt Anton von Werner im Februar 1885 den kaiserlichen Auftrag eine kleine Darstellung der Kaiserproklamation zum 70. Geburtstag von Bismarck zwei Monate darauf anzufertigen. Um das Bild pünktlich übergeben zu können, war es Werner nur möglich eine nichtfarbige Skizze zu übermalen, die ihm als Vorlage für die zweite Fassung gedient hatte, weshalb sich die beiden Gemälde sehr ähneln. Der größte Unterschied zur Zeughausfassung ist der Prunkrahmen, mit dem das Bild geschmückt wurde. Diese dritte Fassung, auch bekannt als Friedrichsruher Fassung, entwickelte sich zur „offiziellen Fassung des Proklamierungsbildes“[6]. Diese Version der Kaiserproklamation ist die Einzige, die noch als Gemälde erhalten ist.

Abb. 7: Hervorgehoben: Kriegsminister Albrecht von Roon.

In der Friedrichsruher Fassung trägt Bismarck nicht nur den weißen Koller, was sich scheinbar durchgesetzt hatte, sondern auch den Orden Pour le mérite, welcher ihm erst im Jahr zuvor verliehen worden war. Rechts unterhalb der Fürstenestrade befindet sich zudem der 1879 verstorbene Kriegsminister Albrecht von Roonder aufgrund von Krankheit 1871 nicht an der Zeremonie teilnehmen konnte. Werner hatte diesen bereits in der ersten Fassung nachträglich hinzugefügt, nach Roons Tod in der zweiten Fassung zunächst weggelassen, und nun in dieser dritten Fassung wieder in das Gemälde aufgenommen. In diesem Fall gehörte er auch wegen seiner Freundschaft zu Bismarck ins Bild. Durch die bereits festgelegte Komposition der Skizze werden Bismarck, Moltke und Roon jedoch nicht als ideelles Trias wie in der ersten Fassung präsentiert. Die neue Position Roons hatte zur Folge, dass der in den vorherigen Fassungen dargestellte Händedruck zwischen dem preußischen Generalleutnant von Blumenthal und dem bayerischen General von Hartmann nicht mehr dargestellt wurde. Was die Interpretation zulässt, dass dadurch die bayerische Stellung in dem Bild abgeschwächt wurde zugunsten der preußischen Vormachtstellung.

Vierte Fassung / Frankfurter Fassung (1913)

Abb. 8: Aula des Realgymnasiums Frankfurt (Oder) ca. 1925 mit Blick auf die 4. Fassung. Öl auf Leinwand, 5,00 × 7,55 m.

Bei der vierten Fassung handelt es sich um ein Wandgemälde der Proklamierung in einem Realgymnasium in Werners Geburtsstadt Frankfurt (Oder), das Werner 1913 fertigstellte. Davon haben sich nur eine Kompositionsskizze sowie Figuren- und Modellstudien erhalten. Das Bild soll zwar den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, gilt jedoch als verschollen. Es handelt sich um eine leicht veränderte Variante der dritten Fassung, was dafürspricht, dass sich diese Fassung trotz ihrer historischen Unkorrektheiten als allgemeingültige Lösung etabliert hatte. In dem Frankfurter Wandgemälde wurde lediglich ein etwas niedrigerer Standpunkt gewählt und aufgrund der Räumlichkeiten der Aula der Scheitel des Korbbogens abgeflacht, so dass sich die Balken der Hintergrundarchitektur nicht mehr auf dem Gemälde befinden. Zu dieser vierten Fassung der Proklamierung gab es nur ein geringes Echo in der Öffentlichkeit, was möglicherweise zum einen auf die ähnliche Komposition des Bildes zu den früheren Fassungen zurückzuführen ist, als auch auf den Anachronismus des Themas. Schließlich entstand das Gemälde ganze 42 Jahre nach dem Staatsakt.

Belege

[1] Bartmann 1993, S. 334.

[2] Bartmann 1993, S. 334.

[3] Werner 1913, S. 30.

[4] Zum Beispiel Rosenberg 1879, S. 245.

[5] Werner 1913, S. 356f.

[6] Thielen 1964, S. 824f.

Abbildungen

Abb. 1: Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Abb. 2: Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Abb. 3: Bearbeitet auf Grundlage von Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Abb. 4: Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Abb. 5: Bearbeitet auf Grundlage von Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Abb. 6: Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Abb. 7: Bearbeitet auf Grundlage von Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Abb. 8: Wikimedia Commons. Lizenz: Public Domain.

Literaturliste

Bartmann, Dominik: Anton von Werner. Zur Kunst und Kunstpolitik im Deutschen Kaiserreich, 1985 Berlin.

Bartmann, Dominik: Der Maler der Kaiserproklamation, in: Dominik Bartmann (Hg.), Anton von Werner. Geschichte in Bildern (Ausstellung des Berlin Museums und des Deutschen Historischen Museums Berlin, im Zeughaus, 7. Mai – 27. Juli 1993), München 1993, 332-369.

Gaehtgens, Thomas Wolfgang: Anton von Werner. Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches. Ein Historienbild im Wandel preußischer Politik, Frankfurt am Main 1990.

Gaehtgens, Thomas Wolfgang: Anton von Werner und die französische Malerei, in: Dominik Bartmann (Hg.), Anton von Werner. Geschichte in Bildern (Ausstellung des Berlin Museums und des Deutschen Historischen Museums Berlin, im Zeughaus, 7. Mai – 27. Juli 1993), München 1993, 49-61.

Paret, Peter: Kunst als Geschichte. Kultur und Politik von Menzel bis Fontane, München 1990.

Rosenberg, Adolf: Berliner Malerschule, Berlin 1879.

Thielen, Peter: Zur Historienmalerei der Bismarckzeit, in: Konrad Repgen (Hg.), Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach zum 10. April 1964, Münster 1964, 816-827.

von Werner, Anton: Erlebnisse und Eindrücke 1870-1890, Berlin 1913.