Fotografien als historische Quellen

Über den Umgang mit visuellen Medien in den Geschichtswissenschaften

Die Bedeutung visueller Medien in den Geschichtswissenschaften

Der Quellenkorpus der meisten Historiker*innen besteht größtenteils aus schriftlichen Quellen. Die These im historischen Diskurs lautet, dass nur dann auf Bilder als Quellen zurückgegriffen wurde, wenn es einen Mangel an Schriftquellen gibt.[1] Allerdings unterliegt der historische Quellenkorpus einigen Veränderungen. Neben den herkömmlichen Quellen rücken nun auch mediale und visuelle Überlieferungen in den Vordergrund. Vor allem Bildquellen werden als „nonverbal[e] Medi[en]“ ergänzend und korrigierend zu Schriftquellen angesehen.[2]

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Erkenntnisse aus der Vergangenheit sollten in der Geschichtsschreibung mit Hilfe von Fotografien gewonnen werden?

Die Fotografie als authentisches Dokument

Die Behauptung, dass eine Fotografie als ein „authentisches Dokument“ die Wahrheit darstelle, war lange Zeit eine weit verbreitete Überzeugung.[3] Sie galt „als ein Medium, das Realität gewissermaßen dokumentarisch aus dem Fluß der Geschichte“ wiedergebe und „unverändert bewahre“, sodass sich ihr Quellencharakter aus der „Übereinstimmung […] mit der geschichtlichen Wirklichkeit“ ergebe.[4] In diesem Sinne fungierte die Fotografie primär „als Botschafter der Vergangenheit“.[5] Im späteren Verlauf der Wissenschaft sollte anhand des „historischen Dokumentsinns“ ein „authentisches historisches Geschehen“ zum Ausdruck gebracht werden.[6] Die Fotografie wurde als ein „Überbleibsel einer historischen Wirklichkeit“ betrachtet.[7] Zudem wurde ihr, basierend auf der Theorie des „historische[n] Auge[s]“, eine Nähe zur historischen Realität zugeschreiben[8], da sie „Aussagen von Augenzeugen“ festhalten würden.[9] Aus diesem Grund scheinen Fotografien historisch evident zu sein: „Man sieht, was war“.[10]

Abb. 2: Dieses Foto einer Arbeiterfamilie ist während einer Wohnungsbegehung der Berliner Ortskrankenkasse entstanden. Es sollte gezeigt werden, inwieweit die Wohnsituation der Arbeiter die Entstehung von Krankheiten begünstigt. Weitere Informationen zum Authentizitätsproblem von Fotografien finden sich unter dem Bericht: „Über den vermeintlichen Authentizitätsbonus von Fotografien“

Die Fotografie als Sinnbild

Diese Annahmen wurden durch die historische Bildforschung, die sich v.a. mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen dem Medium „Fotografie“ näherte, zunehmend relativiert. Dabei ist die Annahme relevant, dass mit Hilfe von Fotografien Kenntnisse über die kulturell und gesellschaftlich „abbildungswürdig“ erachteten Gegenstände, Menschen und Ereignisse gewonnen werden könnten.[11] Ihr Potenzial liege darin, die Begriffe auf ihre zentrale Bedeutung hin zu reduzieren. Fotografien werden als „Sinnbilder“ verstanden.[12] Zu berücksichtigen wäre, dass Fotografien „grundsätzlich im Hinblick auf bestimmte Adressaten entworfen“ werden würden,[13] sodass sie auch als „Kommunikationsmedien, die Hinweise auf ihre intendierten Betrachter“ enthalten, angesehen werden können.[14]

Die Fotografie als Quelle der historischen Imagination

Konsultieren Historiker*innen eine Fotografie als Quelle, soll durch sie die Vergangenheit „lebhaft imaginier[t]“ werden können. [15] Die Bildquelle rege zur „historischen Imagination“ an.[16] Dabei streben Historiker*innen nicht nach einer authentischen Rekonstruktion, sondern bemühen sich um ein bildliches Denken. Da die Fotografie von einem Zeitzeugen aufgenommen wurde, wohnen ihr bildliche Vorstellungen inne. Zugleich bringen Historiker*innen, die mit der Fotografie arbeiten und sie deuten, unumgänglich ihre eigene und die gegenwärtig gesellschaftlichen Bildvorstellungen zum Ausdruck. Ziel im Umgang mit Bildern ist es, die Vergangenheit mit Hilfe von Bildern anzueignen und zu denken. Dabei strebe die Geschichtsschreibung eine historisch, lebendige Imagination der Vergangenheit an.

Abb. 2: Fotografien als Ausdruck gesellschaftlicher Bildvorstellungen. Mehr Informationen zu Betrachtungskonventionen als Spiegel gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen finden sich unter dem Bericht: Rassismus in Bildern

Die konstruktivistische Perspektive auf den Umgang mit Fotografien

In den neueren Ansätzen über den historischen Umgang mit Bildquellen in der Geschichtswissenschaft dominiert die konstruktivistische Perspektive. Mit Hilfe von Bildern werde Wissen und Erkenntnis konstruiert. Fotografien sind keine Belege und mit ihnen kann nichts weiter bewiesen werden, außer dass ein Foto aufgenommen wurde. Damit sagt eine Bildquelle nichts aus und ihr wird erst durch die Historiker*innen oder Betrachter*innen ein Inhalt zugeschrieben [17], da sie eben nur „Aspekte der Realität“ festhält. [18] Somit sind Fotografien keine determinierten Interpretationen der Vergangenheit, sondern können als Deutungsangebote für Historiker*innen fungieren, denn sie verändert sich, sobald ihre historisch wechselnden Bedingtheiten und Zusammenhänge erfasst werden.[19] Vor allem der jeweils herrschende Diskurs prägt und bestimmt ihre Bedeutung und Aussage.[20] Die Relevanz und der Inhalt einer Fotografie wird im (historischen) Diskurs und der Praxis konstruiert.

Zusammenfassung

Historiker*innen sollten demnach durchaus die Fotografie als Quelle nutzen. Wichtig erscheint, Fotografien als vergangene Bildvorstellungen aufzufassen und sie stärker als Sinneinheiten in der Geschichtswissenschaft zu nutzen. Ziel ist es, die Vergangenheit als historische Imagination oder Konstrukt zu erarbeiten. Nur so können sie mannigfaltige Deutungen für die Geschichtsschreibung liefern. Dabei scheint in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft das Anliegen zu sein, mit Bildquellen zu denken, zu arbeiten und zu lernen.

Literatur

[1] Jäger, Jens: Historisch orientierte Bildwissenschaften. Geschichtswissenschaft. In: Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt am Main 2005, S. 187.

[2] Tolkemitt, Brigitte: Einleitung. In: Ebd./Rainer Wohlfeil (Hrsg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (= Zeitschrift für Historische Forschung Beiheft 12), Berlin 1991, S. 9.

[3] Bredekamp, Horst: Bildakte als Zeugnis und Urteil. In: Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004, S. 29.

[4] Hannig, Jürgen: Fotografie und Geschichte. In: Klaus Bergmann/Klaus Fröhlich/Annette Kuhn/Jörn Rüsen/Gerhard Sschneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 1997⁵, S. 675.

[5] Jäger, Jens: Fotografiegeschichte(n). Stand und Tendenzen der historischen Forschung, Archiv für Sozialgeschichte 48, 2008, 535.

[6]  Wohlfeil, Rainer: Methodische Reflexion zur Historischen Bildkunde. In: Ebd./Brigitte Tolkemitt (Hrsg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (= Zeitschrift für Historische Forschung Beiheft 12), Berlin 1991, S. 34-35.

[7]  Wohlfeil, Rainer: Das Bild als Geschichtsquelle, Historische Zeitschrift 243/1, 1986, S. 99.

[8]  Roeck, Bernd: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004, S. 298.

[9] Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003, 15.

[10]  Sauer, Michael: Fotografie als historische Quelle. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), S. 571.

[11] Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt 2009, 13-14.

[12] Sauer, Michael: Fotografie als historische Quelle. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), S. 576.

[13] Jäger, Jens: Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung, Tübingen 2000, S. 81.

[14] Ebd.

[15] Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003, S. 14.

[16] Regener, Susanne: Bilder. Geschichte. Theoretische Überlegungen zur Visuellen Kultur. In: Karin Hartewig/Alf Lüdtke (Hrsg.), Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004, S. 15.

[17] Hartewig, Karin: Fotografien. In: Michael Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd.4, Quellen, Stuttgart 2002, S. 435.

[18] Hanning, Jürgen: Fotografie und Geschichte. In: Klaus Bergmann, Klaus Fröhlich, Annette Kuhn, Jörn Rüsen, Gerhard Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 1997⁵, S. 675.

[19]  Roeck, Bernd: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004, 303.

[20] Sauer, Michael: Fotografie als historische Quelle. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), S. 572.