Vergleichende Bilder als Suggestion?
Eine Analyse der visuellen Darstellung demokratischer Systeme in drei Schritten
Ziel
Kritische Bild- und Textkompositionsanalyse im Schulbuch
Fragestellung
Kann eine vergleichende Gegenüberstellung von Bildern Assoziationen generieren?
Mittel
Layout-Analyse in drei Schritten
Zunächst soll die räumliche Anordnung der vorhandenen Elemente untersucht werden. Jede Platzierung hat dabei ihren Sinn und als solche eine spezifische Funktion, die es zu benennen gilt. Das können z.B. Quellen und Informationstexte sein.
Daraufhin wird das Erscheinungsbild genauer betrachtet. Hier wird gefragt, in welchem Format, welcher Größe und somit in welcher Relevanz bzw. Akzentuierung das Dargestellte daherkommt.
Der dritte und letzte Schritt sind dann etwaige Verbindungen. Kommen Zwischenräume oder Gegenüberstellungen vor? Und was wiederum bedeuten diese für den Gesamtkontext?
Zum Forschungsobjekt
Schritt 1: Die räumliche Anordnung
Auf der linken Seite am oberen Ende beginnt das Kapitel 3 mit der Überschrift „Die politische Entwicklung Frankreichs und Deutschlands (1870-1914)“. Darunter führt ein kurzer Informationstext in die Thematik ein und charakterisiert die politischen Systeme beider Länder als erheblich auseinandergehend. Schließlich werden zwei zentrale Fragen gestellt, deren erste sich auf das vorausgegangene Kapitel bezieht. Nummer zwei dagegen orientiert sich am beginnenden Kapitel, wenn es sich an den Informationstext anlehnt und fragt, ob «es angemessen [sei], das Deutsche Kaiserreich als Obrigkeitsstaat zu charakterisieren und als Gegenmodell zum republikanischen Frankreich zu verstehen». Abgeschlossen wird die Seite von einem Zeitstrahl über die zu untersuchende Epoche. Links kommen also ausschließlich aufbereitete Informationen, jedoch keine Quellen zur Geltung. Auf die rechte Seite werden zwei Gemälde gesetzt, die mit Bildtitel und Bildunterschrift versehen sind. Die obere Darstellung zeigt das Werk „Une séance à la chambre des députés“ des Künstlers René Rousseau-Decelle von 1907. Im Bildthema liegt das Augenmerk auf dem Sozialisten Jean Jaurès, der im Bildzentrum eine Rede in der französischen Abgeordnetenkammer hält. Das zum Vergleich herangezogene Gemälde entstammt dem Künstler Anton von Werner aus dem Jahr 1893. Es zeigt Kaiser Wilhelm II. im Berliner Schloss bei der festlichen Eröffnungsrede des deutschen Reichstags von 1888. Prunk und Festlichkeit sind zentrale Motive dieses Gemäldes. Beide Bilder entspringen derselben Epoche und müssen als Quellen eingeordnet werden.
Schritt 2: Das Erscheinungsbild
Die Kapitelüberschrift im roten Rahmen nimmt nahezu ein Drittel der gesamten linken Seite ein, obendrein ist sie farbig untersetzt. Im Layout links dominiert also die Überschrift, während der Text selbst möglichst kurz gehalten wird. Er dient offenbar nur der Orientierung. Im Gesamtkontext wird allerdings ersichtlich, dass die Aufmerksamkeit des Schülers in erster Linie auf die beiden großen Darstellungen der rechten Seite gelenkt wird. Die Bilder fallen allein schon durch ihre Größe und Farbigkeit direkt ins Auge.
Schritt 3: Verbindungen
Beide Gemälde werden gleichformatig untereinander gestellt und somit verglichen. Was der Informationstext auf der linken Seite buchstäblich vorweggenommen hat, verdichtet sich nun in den Gemälden, nämlich die vermeintliche Andersartigkeit des politischen Tagesgeschäfts in Frankreich und Deutschland. Da die Darstellungen zwei gänzlich unterschiedliche Szenen zeigen, kann ihr kontrastierender Charakter gut herausgearbeitet und verglichen werden.
Zum Ergebnis
Histoire/Geschichte, Kapitel 3 skizziert durch die gewählte Darstellung Deutschland und Frankreich als unterschiedliche Ausformungen eines zunächst demokratischen Grundsystems. Frankreich allerdings wird anhand des Gemäldes von Rousseau-Decelle mit Parlamentarismus, Diskurs und Diskussion, kurzum: mit gelebter Demokratie assoziiert, während Deutschland bzw. der deutsche Abgeordnete in der Tat die Rolle des passiven Zuhörers einzunehmen scheint, der der Obrigkeit des Kaisers und der Generäle untergeordnet ist. Durch den direkten Vergleich werden die Quellen aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgenommen. Gerade durch diese Herausnahme kann in der Tat die Suggestion eines direkten Bezugs erzeugt werden. Die Gemälde werden zum Pars pro Toto: In ihnen soll der/die Schüler*in die politisch-gesellschaftlichen Umstände, die beide Länder vermeintlich repräsentieren, wie aus einer textlichen Quelle herauslesen. Mit dieser Methode wird er/sie an die neue Thematik herangeführt und zu einer ersten Meinung gelenkt.
Von Max Obermüller und Sandra Berns